LESEPROBEN

Das Schicksal und die Vorsehung sind Meister des Guten wie des Bösen. Sie spielen alle Noten auf der Klaviatur des Instruments, das das irdische Dasein mit der Musik der Liebe und des Hasses begleitet.

 

In einem grossen Hangar auf einer Luftwaffenbasis in Norden der Wüste Negev findet sie sich mit zweihundert anderen Militärfliegern wieder, alles Offiziere, vom Leutnant bis zum Oberst. Vorne, auf einem Podest, steht breitbeinig General Motti Hod, Oberbefehlshaber und Kommandant der israelischen Luftstreitkräfte. Seine schlanke Gestalt, sein dünner Schnurrbart und sein markantes, hohes Gesicht verraten jedermann sofort, um wen es sich handelt. Niemand in Israel, der ihn nicht kennt. Yael sieht ihren obersten Chef zum ersten Mal. Viel hat sie von ihm gehört, wie jedermann im Land, dass er 1926 im legendären Kibbuz Degania geboren wurde, demselben, aus dem auch Mosche Dayan stammt, der Sieger des Sinaifeldzugs von 1956 mit der schwarzen Augenklappe, der vor wenigen Tagen als Verteidigungsminister ins Kabinett von Ministerpräsident Levi Eshkol berufen wurde, dass er im Zweiten Weltkrieg in der Jüdischen Brigade der britischen Armee in Italien gekämpft hatte und zu einem der Leiter der Alijah Bet wurde, die hunderttausend überlebende Juden des Holocaust entgegen den englischen Einwanderungsbestimmungen auf alten, rostigen Kähnen aus Europa nach Israel brachte, dass er 1948 in der Tschechoslowakei zum Piloten ausgebildet und das erste Kampfflugzeug eigenhändig nach Israel geflogen hat, eine alte, gebrauchte Spitfire aus dem Zweiten Weltkrieg und vieles andere mehr, das Motti Hod zu einem Helden und Idol des Jüdischen Staates gemacht hatte. Er ist nur zwanzig Jahre älter als Yael und doch steht einer der Staatsgründer vor ihr, einer, dessen Eltern und Vorfahren schon im Land geboren wurden, der in ihm verwurzelt ist wie eine Eiche aus König Davids Zeiten. Allein seine Anwesenheit verscheucht alle Furcht und Besorgnis aus den Herzen der Piloten. Laut hörbar klopft er aufs Mikrophon. Augenblicklich verstummt das Gemurmel. Absolute Stille tritt ein. Der General lässt einige Sekunden verstreichen, eher er zu reden beginnt:

 

Aus einem Lautsprecher im Schreckensghetto der Nazis in Warschau, in dem der Aufstand im Gang war, ertönte laut die Hatikwa, das Lied der Hoffnung. Aus allen Häusern, in denen sich noch Juden befanden, wurde mitgesungen: "Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Land Zion und in Jerusalem.

 

Er lag mit dem Gesicht im staubigen Blutwasser, konnte mit letzter Kraft einen Arm von der zerbrochenen Lehne lösen, seine Fesseln öffnen und abwerfen. Vorsichtig sah er nach Wassily. Er atmete noch. Er zog ihn aus den Trümmern, humpelte mit seinem röchelnden Bruder Ins Freie, überquerte die mit Ziegelsteinen und Häuserresten übersäte Strasse, kümmerte sich nicht um die Schüsse, die von überallher kamen und neben ihnen einschlugen. Unbeirrt ging er in Richtung der russischen Stellungen, Wassily immer hinter sich her schleifend. Endlich sah er einen Kameraden, rief ihm russische Worte zu. Er kam angelaufen und half ihm, den halbtoten Wassily zum nächsten Posten im Keller einer der zahllosen Häuserruinen zu tragen.

Am 2. Februar 1943 kapitulierte die 6. Armee. Alle noch lebenden deutschen Soldaten gingen in Kriegsgefangenschaft. Was aus Andrej und Wassily geworden ist, weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass Blut kein Wasser ist, auch wenn es sich manchmal mit ihm mischt.

— C’est mon fiancé, l’amour de ma vie.

— Vous m’en voyez ravi, jeune dame. Mais qu’ai-je à voir avec lui ?

— Vous avez signé sa condamnation à mort. Il doit être guillotiné demain matin, à six heures, dans la Rue de la Croix Faubin, sur la petite place devant la prison de la Roquette, où il se trouve depuis une semaine parce que des voisins envieux et malintentionnés lui ont imputé des propos

contre-révolutionnaires. Je peux vous assurer que l’accusation n’est absolument pas fondée et qu’elle ne correspond en aucun cas à la vérité ou à la réalité. Mon fiancé est un honnête citoyen français, défend l’égalité et la fraternité de tous et n’a jamais rien dit ni fait contre la révolution. Vous seul, Citoyen de Robespierre, avez le pouvoir de le gracier. C’est tout ce que je souhaite, et rien d’autre. »

Les spectateurs retenaient leur souffle. La jeune femme risquait beaucoup, sa vie même. Demander qu’un contre-révolutionnaire soit gracié pouvait également signifier la peine de mort pour celle qui le demandait. Robespierre l’observa pendant plusieurs secondes d’un regard pénétrant, cherchant à deviner si elle avait dit la vérité. Un silence de mort régnait dans le café. Personne ne bougeait ni ne prononçait le moindre mot. Le temps semblait arrêté, cela parut durer une éternité à la jeune femme. Elle soutint cependant son regard.

« Que cela vous soit accordé », finit-il par dire et exigeant une feuille de papier, il rédigea l’acte de grâce de sa propre main et la tendit à la jeune femme. Elle s’en saisit d’une main tremblante et le cœur battant, le remercia poliment, prit congé et sortit à la hâte du café. On ne la revit plus jamais au Café de la Régence, mais il se dit qu’elle aurait eu cinq enfants avec Jean-François de Préjeux. Un de leurs descendants serait un certain Charles de Gaulle, le plus grand citoyen du vingtième siècle, qui a maintenu l’esprit de résistance des Français contre l’occupation allemande pendant la Seconde Guerre mondiale, qui a participé à la victoire contre les nazis et qui a préservé l’honneur de la France. C’est ainsi qu’une petite partie d’échecs – dont presque plus personne ne se souvient aujourd’hui et qui s’est déroulée il y a plus de deux cents ans dans un café qui n’existe plus depuis bien longtemps – eut une influence décisive sur l’histoire de la France.

'Jüdische Liebesgeschichten' mit Illustrationen von Astrid Saalmann

 

Aber jetzt, nach zwanzig Jahren, nach den Seelenqualen vieler durchweinter Tage und Nächte der langen kinderlosen Zeit, war Else doch noch schwanger geworden, jetzt, wo sie schon vierundvierzig war, und das ohne jedes Zutun der Ärzte! Hatte Gott ihr verziehen, die Strafe beendet, die er über sie verhängt hatte? Die Freude Elses und Arthur war so gross wie die Aussicht auf das bevorstehende Familienglück. Auch die Mitglieder der weitverzweigten jüdischen Gemeinde Wiens, vor allem aber derer, die an ihrer Seite im Stadttempel in der Seitenstettengasse beteten, unter denen die ungewöhnliche Sache rasch herumgesprochen hatte, war gross. Es geschah zwar nur an den hohen Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur, dem Neujahrs- und dem Versöhnungstag, dass die Synagoge gut besucht und voll besetzt war, denn zu den übrigen Gottesdiensten, auch am Schabbat, kamen immer weniger Leute in das im 1. Bezirk gelegenen Bethaus des Allmächtigen, der einst den Bund am Sinai mit

ihnen geschlossen hatte. Aber das Gerüchte- und Nachrichtentelefon funktionierte gut, auch ohne die neumodischen Apparate an der Wand. Zudem fühlten sich nicht nur die, die zu diesen seltenen Gelegenheiten andächtig in den Bankreihen des Gotteshauses neben, vor und hinter ihnen sassen und standen, mit ihren Glaubens- und Schicksalsbrüdern verbunden, so unterschiedlich sie auch waren, vom Taglöhner bis zum Professor. Es war das ein unsichtbare Band von zweitausend Jahren gemeinsam erlebten Leides im Exil und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die ihnen die Propheten und das heilige Buch der Thora gaben, von und aus denen sie als Kinder gelernt hatten, das sie zusammenhielt, wie weit sie auch voneinander entfernt waren, in welchen Ländern des Erdballs sie auch lebten, verstreut über die Völker. Alle, auch die, die die religiösen Gesetze nicht mehr oder kaum noch befolgten, waren dem Gott ihrer Vorväter nahe, waren mit ihnen vereint, nicht nur, aber besonders dann, wenn sie das ewige Licht sahen, das vor dem Aron Hakodesch in den Synagogen brannte, dem Schrein, in dem sich die heiligen Rollen der Thora befanden, die der Allmächtige ihnen gegeben hatte, bedeckt vom rot- oder blausamtenen Vorhang, auf dem die Löwen Judas, der siebenarmige Leuchter und der Stern Davids zu ihrem Schutz prangten oder wenn sie dem Ton des Schofars lauschten, des geschwungenen Widderhorns, das sie zur Ein- und Umkehr aufforderte, darauf, den Irrweg des Mannas und der Sünde zu verlassen, den richtigen zu erkennen, den Menschen zum Vorbild zu dienen, ihn zu gehen, den Weg der Befolgung der 613 göttlichen Gebote und Verbote, denn nur er führt zum wahren Sinn des Lebens und öffnet die Tore zum Olam haba, der herrlichen Welt danach. Sie fühlten sie sich einander zugehörig wie es bei keinem einem anderen Volk der Fall war, das kein eigenes Land mehr besass. Der Bund mit Gott, die heiligen Schriften und die nicht endenden Verfolgungen, die sie seit ihrer Vertreibung aus der Heimat im Galut hatten erdulden müssen, hatten sie zusammengeschweisst wie nichts anderes es vermocht hätte, ihre Gedanken und ihr Streben auf einzigartige Weise verbunden, wo immer sie sich befanden und so unterschiedlich in Geist, Gestalt und Fähigkeiten sie waren.

'Der gute Dybbuk'
aus 'Jüdische Erzählungen' mit Illustrationen von Alexander Pavlenko

 

Schon als Kind zeigte er ausserordentliche Fähigkeiten, kannte die ganze Thora und zahlreiche Traktate des Talmuds auswendig und ergänzte die Kommentare von Raschi, Rambam und Ramban mit eigenen scharfsinnigen Betrachtungen, die auch viel ältere Gelehrte in Erstaunen versetzten. Von königlichem Blut, hielt er später in seinen, in Ruschyn und Sadagora erbauten Palästen Hof wie ein regierender Monarch, liess sich in einer silbernen, von vier Schimmeln gezogenen Kutsche durch die Lande fahren, empfing Tausende und Abertausende, Lern-und Wissbegierige, Bewunderer und Staunende, Ehrfürchtige und Mystiker, Ratsuchende und Bittstellende. Von weit- und überallher pilgerten sie zu ihm, Männer und Frauen, Chassidim und Baal Tschuwes (zum Glauben Zurückgekehrte).

Aus allen Teilen der Bukowina, Galiziens, der Vojvodina, Moldawiens, Siebenbürgens, Polens, Rumäniens und Russlands kamen sie, um im Glanz seiner Weisheit dem Ewigen nahe zu sein und etwas von den Strahlen der göttlichen Aura abzubekommen, die sein Antlitz erleuchteten. Ein Tropfen seines Wissens füllte den Ozean aus, sein Urteil glich dem Salomons, sein Rat vermochte böses Schicksal zu gutem zu wenden. Andere Rabbiner mochten die  Annehmlichkeiten beklagen, mit denen er sich umgab, doch sie wussten nicht, dass er den Grossteil des Geldes, das die Menschen ihm spendeten, nach Jerusalem sandte, um den Bau der grössten Synagoge der Stadt zu ermöglichen. Sie wurde 1872 eröffnet, als er bereits in der anderen Welt weilte, nach ihm Tiferet Yisrael-Synagoge genannt, war das höchste und schönste Gebäude der Stadt und diente einzig der Verkündigung der Herrlichkeit des Allmächtigen. Ihre gotischen Fenster und die riesige Kuppel dominierten die Altstadt bis 1948, als die gottlosen Truppen der Arabischen Legion Jordaniens sie zerstörten, die im Verbund mit den Armeen Ägyptens, Syriens, des Iraks und Libanons den neugegründeten Staat Israel vernichten und alle Juden töten wollten, um Hitlers Werk zu vollenden. Im Juni 1967, als die Feinde Gottes sein Volk ein weiteres Mal bedrohten, ihm die Tilgung vom Angesicht der Erde ankündigten, ihre hochgerüsteten, zahlenmässig weit überlegenen Truppen an Israels Grenzen postierten, um loszuschlagen und keinen Juden mehr am Leben zu lassen, hielt es den Heiligen nicht mehr im Himmel. Gott lächelte, als er sah, wie sein geliebter Rabbi in heiliger Wut die unendliche Reise hinunter in irdische Gefilde in der Dauer eines Augenaufschlags schaffte und in den erstbesten in Westjerusalem stationierten israelischen Soldaten fuhr, dem damals einzigen jüdischen Teil der jüdischen Stadt, auf den er traf. Es war ein junger Mann aus Nir Galim bei Ashdod namens Avi Zwi, der sich bisher nicht durch Tapferkeit oder besondere militärische Fähigkeiten ausgezeichnet hatte.

Tanz der Vexiere

Roman

 

Emma kam sich verlassen und von Gefahren umgeben vor, die sie nicht kannte und gegen die sie sich nicht wappnen konnte. Alfred, Astrid, Michael, Mick, der russische Pilot, die Pilotin und die ungewisse Zukunft, alles stürzte in Gedanken auf sie ein. Die kleine sichere Welt in Hofheim am Taunus, in der sie noch vor wenigen Stunden geborgen und aufgehoben gewesen war, behütet wie in einem schützenden Kokon, war auf einmal weiter weg als der Mond, dessen schmale, halbrund gebogene Sichel im Bullauge neben ihrem Sitz im Flugzeug erschien. Sein Leuchten hellte die Finsternis der Nacht ein wenig auf, liess sie aber noch bedrohlicher wirken. Stratosphärenwolken zogen als grauweisse Fetzen in der Kälte des Sternenhimmels vorbei. Zwölftausend Meter über Meereshöhe und sechzig Grad minus zeigte der Bildschirm über der Küchenbar an. Angsterregende Grimassen zogen die wandernden Wolken in der glitzernden, bizarr gefleckten Dunkelheit, die draussen herrschte. Waren sie Vorboten des Todes? War er näher als sie alle dachten? Vor den geisterhaften Phantomen der Wolken und ihrer Ängste spiegelten sich verschwommen die Umrisse ihres Gesichts im Glas des Bullauges. Auch sie verkamen zu einer Fratze. Hatte sie richtig gehandelt? Hätte sie nicht lieber in ihrer kleinen, männer-, geld- und abenteuerlosen Welt bleiben sollen, in der sie Herr ihrer Entscheidungen gewesen war, statt hier über den unbekannten Weiten Russlands einer ungewissen und bedrohlichen Zukunft entgegenzurasen?

  

Alfred dachte an die Wandlung, die er durchgemacht hatte. Das kümmerliche Dasein, das er vor noch nicht allzu langer Zeit gefristet hatte, die psychischen Misshandlungen im Betrieb, denen er hilflos ausgesetzt gewesen war, seine Schüchternheit und Menschenangst, seine Einsamkeit und sein Warten auf den Tod, all das war Lebensfreude und Zukunftsglauben gewichen. Was er noch vor wenigen Wochen für unmöglich gehalten hatte, war eingetreten. Er hatte eine Frau an seiner Seite, die ihn genauso liebte wie er sie, die Sehnen und Streben mit ihm teilte, die ihn endlich zu dem gemacht hatte, was er als Kind in der spiegelnden Scherbe gesehen hatte. War es wirklich sie, die sein Leben verändert hätte, oder war es das, was er immer wieder in den Spiegeln gesehen hatte, nicht die Bilder seiner äusseren Erscheinung, sondern die seines inneren Wesens? Je länger sie gemeinsam aufs Meer hinausblickten, desto mehr wurden sie sich bewusst, dass sie nicht Feen, Elfen und Meerjungfrauen sahen, die auf dem Meer tanzten. Es waren ihre eigenen Seelen, die Jubelsprünge und Freudenreigen vollführten. Für einmal waren sie den Gefängnissen ihrer Physis entwichen, zeigten sich ihnen jauchzend und strahlend. Die Macht der gegenseitigen Anziehung hatte sie aus der Enge befreit, in die eingeschlossen gewesen waren. Die Kraft, die aus ihrer Verbundenheit entstanden war, hatte sie ins helle Licht der Nacht getrieben. Die Inbrunst der Leidenschaft, die sie füreinander entwickelten, liessen sie vor Alfreds und Astrids Augen ein Stück aufführen, das kein Bühnendichter besser hätte verfassen können. Es war der Tanz der Vexiere, den sie sahen, ihrer Vexiere, zum ersten und nicht zum letzten Mal in ihrem Leben. Dieser eine Augenblick wurde zur Ewigkeit für sie. Alles erlebten sie in ihm, was sie nie erlebt hatten, wonach sie sich immer gesehnt und worauf sie immer gehofft hatten und der Augenblick nahm kein Ende. Inmitten der grössten Gefahr, auf einem kleinen Schiff im unbekannten Ozean, viele tausend Kilometer von dem entfernt, was ihre Heime gewesen waren, Erlebnisse hinter sich, die schrecklicher nicht hätten sein können, verfolgt von tausend Häschern, die ihren Tod wollten, bedroht von allem, was Menschen an Bösem erwarten kann, einer ungewissen Zukunft entgegengehend, fühlten sie sich geborgener und sicherer als je zuvor. Ohne es sich im Geiste einzugestehen, erkannten sie im Herzen, dass es nicht das Ziel ihrer Reise war, das sie beglücken würde, sondern dass es die Reise selbst war, dieses an Wahnsinn grenzende Unternehmen, das es ihnen bescherte. Es wartete nicht irgendwo anders, an einem nahen oder fernen Morgen auf sie, es war jetzt und hier da, in diesem Augenblick der Ewigkeit, den sie gemeinsam lebten.

Mischa Turow - oder die mörderische Suche nach Liebe

 

Roman von Alexander Günsberg
Literaturpreisträger

 

Sie hätten verliebt und in bester Laune Champagner getrunken, Kaviar gegessen und zu tanzen begonnen, wobei sie das Gleichgewicht verloren hätten, in die Fluten gestürzt wären und sich nicht mehr in das in der Zwischenzeit weit entschwundene Boot hätten retten können. Die Donau, dieser schreckliche Fluss, hätte ihr die grosse Liebe genommen, ihr Leben zerstört, stammelte sie in perfekt gespielter Verzweiflung.

 

 

Ihre Religion war die Selbstsucht, ihr Gott die Physik, ihre Bibel das Schachspiel und ihre Festfreude der Sadismus.

 

Seit die Weltpresse erstmals von ihr Notiz genommen hatte, waren achtzehn Jahre vergangen. Sie war zu einer blendend aussehenden jungen Frau herangewachsen, die aber nicht nur die Klatschmagazine füllte und die Schachwelt mit ihren Erfolgen in Atem hielt, sondern deren revolutionäre Entdeckungen auf dem Gebiet der Physik die Menschheit um Quantensprünge weiterbrachte, den Horizont des menschlichen Denkens in einem Masse erweiterten, wie es nicht einmal im Zeitalter der weltumspannenden Kommunikation und der beginnenden Eroberung der Planeten des Sonnensystems für möglich gehalten worden wäre. In ihrem Wesen waren Klugheit, Schönheit und Anmut nahezu perfekt vereint. Vor einem Jahr hatte sie den Doktor in Physik gemacht und war sofort, im Alter von nur vierundzwanzig Jahren, als ordentliche Professorin an den eigens für sie geschaffenen Lehrstuhl für dynamische Teilcheninterferenz, abgekürzt DTI, an die Universität Wien berufen worden, eine Sensation in der universitären Welt. Ihre Dissertation über die dynamische Wechselwirkung der kleinsten, subatomaren Bestandteile der Elementarbausteine und die daraus entwickelte Dynamotheorie, bald nur noch als Turow‘sche Theorie bezeichnet, die das Rätsel bisher unerklärter Phänomene und Wirkungsweisen löste und der Technik, insbesondere der Weltraumfahrt ungeahnte Möglichkeiten öffnete, hatte in allen Fachblättern und bei den wichtigsten Symposien in allen Teilen der Erde Furore gemacht. Von der Fachwelt wurde ihre Theorie in der Bedeutung für die Erkenntnis der physikalischen Zusammenhänge und künftige Entwicklungen in eine Reihe mit Albert Einsteins allgemeiner und spezieller Relativitätstheorie, Werner Heisenbergs Unschärferelation und Wolfgang Paulis Quantenmechanik gestellt. Sie bekam zahllose Einladungen zu Vorträgen, von denen sie aber nur wenige annahm, da sie auch weiterhin Zeit für die Beschäftigung mit Schach und einer ungewöhnlichen Passion haben wollte, von der in diesem Buch die Rede sein soll. Für das breite Publikum, für die Menschen, deren Kenntnis der Physik sich auf die oft und lapidar zitierte Feststellung frei nach Einstein beschränkt, dass alles relativ ist, womit sie unzweifelhaft relativ Recht haben, ohne zu verstehen warum, war sie längst zu einer Ikone geworden. Im Schach hatte sie schon während des Studiums, für das sie anders als die meisten ihrer Kommilitonen kaum Zeit aufwenden musste, den Sprung an die absolute Weltspitze geschafft. Sie hatte fast alle Turniere gewonnen, an denen sie teilgenommen hatte, war Meisterin der Schweiz und Österreichs geworden, hatte den Grossmeistertitel der Frauen und den noch höher bewerteten der Männer erworben und sich für die Wettkämpfe zur Ermittlung der Herausforderin der amtierenden chinesischen Weltmeisterin qualifiziert, die in einem halben Jahr bevorstanden. 

 

Mischa Turow - or the Deadly quest for love

 

A novel by Alexander Günsberg

prize-winning author

 

They were overjoyed and deeply in love, had been drinking champagne, eating caviar and oh so foolishly begun dancing. They had lost their balance and fell into the torrent and were unable to save themselves as the boat had by then drifted too far away. The Danube, this monstrous river had taken her one true love, had destroyed her life, she stammered out in flawlessly feigned despair.

 

Her religion was Egotism. her God Physics, her Bible the game of chess and her joy sadism.

 

Late that night, after dinner, Kutin took Mischa and JD in his helicopter and flew with them to his dacha deep in the forest far outside of Moscow. Accompanied by only a handful of bodyguards they went bear hunting, an entertainment not without its perils. With one well-aimed shot, Kutin nailed a huge bear at close quarters. On an open fire, they grilled and ate fresh bear meat, drank heavenly Crimea wine and listened to the songs Kutin sang, playing the domra, the Russian lute. His playing was unparalleled. Although he could easily be Mischa’s grandfather, Kutin’s body was as strong and well-trained as a young man’s. With his upper body bared, he chopped wood in the cold night, fired up the fireplace that could have easily held three oxen and allowed himself to be unabashedly served and pampered by six young Russian girls who were permanent installations in the dacha household. Later in their room, before Mischa and JD had even begun foreplay, they could hear the screams of unbridled lust, pain and abandonment coming from Kutin’s suite, echoing through the Olympic swimming pool in the next room.

Aus dem Vowort:

 

Dieses Buch handelt nicht nur von Schweizern, sondern vor allem von Wienern, besonders von einem, nämlich von mir, obwohl ich nun auch schon seit über dreissig Jahren den begehrten roten Pass besitze und Bürger der Rheinstadt Basel bin. Daneben kommen aber auch ein paar Italiener, Deutsche und Amerikaner vor und sogar ein afrikanischer Staatspräsident, der aber leider oder Gott sei Dank, je nachdem durch welch Brille man es betrachtet, nicht lange Staatspräsident blieb. Sie alle sind aber nur Zeugen dafür, wie weit die Umgebung Wiens in die ganze Welt hineinreicht. In der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, zu unseligen Zeiten von Kaiser Karl V, nannte man das Habsburgerreich dasjenige, in dem die Sonne nie unterging. Es zog sich von Südamerika bis Indien. Zu meinen Zeiten reichte das Günsbergreich, das ebenfalls ihren Mittelpunkt in Wien hatte, im Osten nur bis zur ungarischen Grenze, im Westen jedoch bis an den Golf von Mexiko. Das ist doch grösser als viele andere  Reiche von Männern, oder etwa nicht?

 

Aus 'Die PLO-Connection':

Alex Eckert habe ich nie mehr gesehen, ebenso wenig wie das Geld, das er unserer Firma schuldete. Diesen Verlust nahm ich jedoch gern in Kauf, konnte ich damit doch zahlreiche Menschenleben retten. Später erfuhr ich, der skrupellose Waffenhändler sei vom Mossad nach Israel gebracht, zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden und sitze in einer israelischen Gefängniszelle, wo es keine Kakerlaken gibt, jedoch Fenster, sanitäre Einrichtungen und ausreichend zu essen, ja sogar ein Schwimmbad und einen Fussballplatz für die Häftlinge. Die israelische Armee marschierte kurz darauf in Beirut ein, zerstörte das PLO-Hauptquartier samt ihren Waffenlagern, Folterkammern und lichtlosen Kellerverliessen und befreite viele Menschen, die im Gegensatz zu Alex Eckert dort unschuldig einsassen, darunter Entführungsopfer, Geiseln und politische Gegner aller Schattierungen. Yassir Arafat und seine Mordgesellen flüchteten nach Tunis, aber auch dort hatten sie nicht lange Ruhe vor den Israelis. Madelaine Eckert sah ich noch mehrmals abends im Vorbeifahren am Gürtel, wo sie, bekleidet mit einem ultrakurzen Minirock, Netzstrümpfen und hohen schwarzen Plastikstiefeln ihrer Tätigkeit nachging. Wie mir ein Freund berichtete, kostete die Stunde bei ihr hundert Schilling mit Pariser, hundertfünfzig ohne und zweihundert inklusive Küssen.

Der Sandmann

62 Novellen und Kurzgeschichten

 

So hatte ich, ohne es zu ahnen, eine Partie Schach mit dem Chef der Mafia von Neapel gespielt, der mir jedoch im Gegensatz zu anderen nichts Böses angetan, sondern mir Kaffee und Kuchen spendiert hat.

 

Die Nichte meinte, das Schachbrett wäre in Reparatur, sie könne ein Bügelbrett bringen.

 

Aussenminister Bruno Kreisky, würdiger Nachfolger Metternichs, hatte schon ein Jahr zuvor den amerikanischen Präsidenten Kennedy und den Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion Chruschtschow zu einem Gipfeltreffen nach Wien geladen. Er griff zum Telefon und rief die beiden mächtigsten Männer der Welt an. Die Kubakrise hatte ihren Höhepunkt erreicht. Der 3. Weltkrieg mit Atom- und Wasserstoffbomben, der den grössten Teil der Menschheit vernichten würde, stand unmittelbar bevor.

 

Aus der 'Antiheld':

 

Der Bandenchef nahm das Schachbrett vom Regal, das Romuald immer noch nicht bemerkte hatte und rief einen der anderen Männer zu sich. Sie setzten sich an einen Tisch und stellten die Figuren auf, während der Mann von der Bar mit zwei gefüllten Gläsern zurückkam.

«Da hast Du was zu trinken, du kleine Hure».

Er stellte das Glas vor sie hin und begann selbst zu trinken. Romuald musste handeln. Was sollte er tun? Körperlich war ihm der Mann weit überlegen. ‘Schach’ schoss es ihm durch den Kopf. Er wandte sich an den Bandenchef:

«Warum spielen wir nicht um die Kleine?»

Der Bandenchef drehte sich verdutzt zu ihm um.

«Was meinst Du mit Spielen, Du kleiner Wicht?»

«Sie sind doch Schachspieler. Also warum machen wir nicht einfach eine Partie? Die Kleine hier ist der Einsatz. Wer gewinnt, bekommt sie! Oder wenn Sie keine Lust auf sie haben, können Sie sie Ihrem Freund überlassen. Der ist ja so scharf auf sie».Er deutete auf den Mann mit dem Glas in der Hand. Dieser wollte von dem Vorschlag jedoch nichts wissen.

«So ein Schwachsinn, die Kleine nehme ich mir jetzt, was soll der Unsinn mit dem Schachspiel?»

Der Chef sah ihn scharf an.

«Wer ist hier der Boss, Dimitri, Du oder ich? Die Idee gefällt mir. Wir spielen um eine Frau. Das ist mal etwas Neues. Ich gewinne eh und dann

kannst Du sie haben.»

In verächtlichem Befehlston wandte er sich an Romuald:

«Komm her, Du Zwerg, setz Dich dahin. Aber wir machen das Ganze noch spannender. Wer gewinnt, bekommt nicht nur die Frau, sondern auch noch tausend Kröten. Bist Du dabei?»

«Klar doch»,

antwortete Romuald, den Gangsterjargon der anderen nachahmend.

«Nur noch eins zu Deiner Information, Du Schlaumeier», ergänzte der Bandenchef. «Ich bin Grossmeister und habe ein Rating von 2580 Elo».

Ein Grossmeister als Räuberhäuptling, dachte Romuald bei sich, das ist ungewöhnlich. Und 2580 Elo, das ist die Spielstärke des jungen Bobby Fischer. Seit seinen Kindertagen, als er mit seinem Vater gespielt hatte, war er nie mehr einem Menschen am Schachbrett gegenübergesessen. All seine Schachkenntnisse hatte er nur aus Büchern und den nachgespielten Partien. Aber jetzt galt es ernst. Es ging um Leben und Tod, ja mehr noch, um das Leben der einzigen Frau, die er je im Arm gehalten hatte, wenn es auch nur ganz kurz gewesen war. Doch manchmal genügen wenige Augenblicke, um alles zu verändern. Er stand auf und setzte sich zum Grossmeister ans Brett. Die anderen kamen dazu. Sie wollten mitansehen, wie ihr Boss für sie eine Frau im Spiel gewann. Es erschien ihnen wie der Verkauf einer unberührten Jungfrau am Sklavenmarkt in alten Rom, stachelte ihre Lust an. Einer fasste ihr prüfend an die Brüste, doch der Grossmeister sah ihn scharf an.